Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
zu unserem Bedauern mussten wir feststellen, dass der Versuch mit Ihnen in die Debatte über eine soziale Pflichtzeit zu treten, obwohl diese von Ihnen selbst angestoßenen wurde, erfolglos war. Aus diesem Grund wenden wir uns nun in dieser Form erneut an Sie, in der Hoffnung, diesem für den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt so wichtigen Thema mit der gebotenen Ernsthaftigkeit und einem Mindestmaß an Veränderungswillen zu begegnen.
Im vergangenen Jahr haben Sie das Thema einer sozialen Pflichtzeit in den öffentlichen Diskurs getragen und im gleichen Zuge Ihre Bereitschaft dazu signalisiert, auch „andere überzeugende Konzepte“ als die jener Pflichtzeit mit zivilgesellschaftlichen Akteuren zu diskutieren.
Die Landesdelegation des Freiwilligen Ökologischen Jahres in Niedersachsen nimmt Ihr Angebot auf diesem Wege erneut an, da diese bedeutsame Debatte, wenngleich Sie genau dies angemahnt hatten, gerade jetzt im Nichts zu enden droht. Daran sind wir als junge Menschen – hoffentlich ebenso wie Sie – nicht interessiert.
In der Bundesrepublik Deutschland absolvieren jährlich rund einhunderttausend junge Erwachsene einen Freiwilligendienst. Dabei ist das Spektrum von sozialen, politischen oder kulturellen Bereichen über den freiwilligen Wehrdienst bis hin zu ökologisch orientierten Freiwilligendiensten divers aufgefächert. Jedoch stellt sich in Anbetracht dessen unweigerlich die Frage, weshalb sich nicht mehr Personen auf diese Art und Weise in den Dienst der Gesellschaft stellen und wie genau ein Zuwachs zu erreichen ist. Ihre Antwort darauf scheint zu sein, unter anderem die Jugend durch eine soziale Pflichtzeit dazu zu zwingen, den „Blick aus der eigenen Wirklichkeit“ herauszuwagen. Doch wir fragen Sie, wie ist dies mit der Liberalisierung des Lebens in der heutigen Zeit und mit der Belastung der Jugendgeneration durch die Pandemie vereinbar? Unserer Auffassung nach spiegelt Ihr Vorschlag nicht das Idealbild einer freiheitlich-demokratischen und progressiven Gesellschaft wider, sondern unterminiert fundamental den von Ihnen angesprochenen „Ehrgeiz der Jugend“, einen Freiwilligendienst zu absolvieren. Im Sommer letzten Jahres hieß es dazu von Ihrer Seite, der Vorschlag resultiere aus der Sorge, den gesellschaftlichen Zusammenhalt wiederherstellen und der Entfremdung entgegenwirken zu müssen.
Auch wir sehen diese besorgniserregende Entwicklung, jedoch bietet sich ein anderer, mit den grundlegenden Freiheitsrechten kompatiblerer Ansatz bedeutend besser an, diese Probleme auf der beschriebenen Ebene zu bekämpfen, da eine Lösung des Problems zum Greifen nahe ist: Um uns als junge Menschen dafür zu begeistern, sich nach der Schule einem Freiwilligendienst zu widmen, sind es die Rahmenbedingungen des derzeitigen Systems, welche substanziell reformiert werden müssen, um die Zahl der Freiwilligen zu erhöhen. Dadurch bestünde für alle die Möglichkeit, andere Lebensentwürfe außerhalb „der eigenen Blase“ kennenzulernen und so der gesellschaftlichen Teilung entgegenzuwirken. Unser Vorschlag, den strukturellen Rahmen des Freiwilligen Jahres grundlegend zu verbessern, würde zudem gesellschaftlich und nicht zuletzt bei den von einer möglichen Verpflichtung betroffenen Personen, auf breitere Akzeptanz stoßen und darüber hinaus zu einem nachhaltigen Anstieg der Freiwilligendienstleistenden führen.
Ferner suggerieren Sie, dass es an der Zahl der Personen mangele, die freiwillig „etwas tun für andere Menschen“ und schlagen daher das Instrument der Verpflichtung vor, um eine Zunahme gezwungenermaßen herbeizuführen. Gleichwohl warnt der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, Dr. Ulrich Schneider, ausdrücklich vor einem Zwang, da infolgedessen Personen rekrutiert würden, die „überhaupt keine Lust“ hätten oder „ungeeignet“ seien, was in sensiblen Bereichen wie der Pflege kranker Menschen schlicht nicht mit gutem Gewissen vereinbar ist. Ihre Grundannahme, es bestehe ein Mangel an potentiellen Freiwilligendienstleistenden, ist indes keineswegs zutreffend.
Die derzeitige Anzahl der Freiwilligendienstleistenden in der Bundesrepublik kommt nicht durch fehlendes gesellschaftliches Engagement in unserer Generation zustande. Vielmehr wird diese maßgeblich dadurch bedingt, dass marginalisierte Gruppen trotz des vorhandenen Interesses keinen sozialen Dienst antreten können, da diesem Personenkreis auf Grund seiner fehlenden privilegierten Stellung in der Gesellschaft die Chance dazu verwehrt wird. In Hinblick darauf lässt sich eine Vielzahl von Hürden anführen, die es uns als Freiwilligendienstleistenden erschweren, an einem Freiwilligen Jahr teilzuhaben. Zu nennen sind hierbei die durch den Föderalismus verstärkten, heterogenen Organisationsstrukturen, die mangelhafte und sich derzeit sogar verschlechternde finanzielle Grundsicherung der Freiwilligendienstleistenden, die durch die konsequente Ungleichbehandlung bedingte Benachteiligung im gesellschaftlichen Zusammenleben, sei es insbesondere im Bereich der Mobilität oder des kulturellen Lebens, und nicht zuletzt die mangelnde informative Aufklärung über Freiwilligendienste für Schülerinnen und Schüler.
Abschließend ist festzuhalten, dass bedeutend mehr Personen an einem Freiwilligendienst teilnehmen möchten, sei es, um sich persönlich weiterzuentwickeln, sich Berufs- und Studienorientierung zu widmen oder grundsätzlich in den interkulturellen Austausch mit Gleichaltrigen zu treten. Für jene besteht diese gewinnbringende Möglichkeit im aktuellen System nicht.
Eine soziale Pflichtzeit in Deutschland zu etablieren, wird dem Problem des abnehmenden gesellschaftlichen Zusammenhalts nicht gerecht, da es hierzulande nicht etwa an gemeinnützig engagierten und motivierten Menschen fehlt, sondern an einem sozial verträglichen, modernen und insbesondere attraktiven Rahmen für den Freiwilligendienst.
Wir würden uns freuen, wenn Sie nun ernsthaft an dem Diskurs um die Zukunft des Freiwilligendienstes teilnehmen würden.
Hochachtungsvoll
Florian Krimmer
Sprecher des Freiwilligen Ökologischen Jahres in Niedersachsen
Im Auftrag der Landesdelegation des FÖJ in Niedersachsen
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